Müssen oder nicht müssen?

Eine merk-würdige Eigenschaft meinerseits, die ich erstens schon ziemlich lange habe (ein paar Jahre) und die zweitens immer wieder für Neugierde (oder Irritation) sorgt, ist die Verwendung bzw. Nicht-Verwendung des Wortes „müssen“. Hier kommen jetzt einfach mal meine tagesaktuellen verschriftlichten Gedanken zu den häufigsten Fragen, die dazu aufkommen.

Meine direkteste Antwort: Ich verwende das Wort „müssen“ nicht, weil ich Verantwortung für mein Leben (übernehmen) möchte.
Respons-abilty à „the ability to respond“ à VerANTWORTung.
Verantwortung zu übernehmen, heißt, auf das Leben zu antworten und die Reaktion (also Antwort) auf die äußeren Umstände und Ereignisse selbst zu wählen.
An dieser Stelle hole ich Viktor Frankl ins Boot: „Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.“
Ich will frei sein. Ich will wachsen. Das, was ich bin und das, was ich werde, sind die beiden Flügel, die mich auf dem Weg zu einem glücklichen und erfüllten Leben tragen. Eros und Telos. Being and Becoming.


Das war die ganz kurze, aber auch ziemlich tiefe Variante. Jetzt nochmal in etwas langsamer.
Was hat ein Wort mit meiner Freiheit als Mensch zu tun? Was sage ich stattdessen? Denke ich, dass andere das Wort auch nicht verwenden dürfen?

Der wahrscheinlich häufigste Kritikpunkt ist der, ob es wirklich einen Unterschied macht, ein kleines Wort (nicht) zu verwenden. Meine Antwort darauf wäre: In dem Moment, in dem es aufkommt, in dem Du Dich damit beschäftigst und den Punkt inhaltlich verstehst, ist es relevant. Falls Du das nicht möchtest, mache jetzt lieber schnell die Augen zu, versuche das Fenster zu schließen und all das hier zu vergessen (ich empfehle ausgiebigen Alkoholkonsum oder ein paar Minuten auf Tiktok oder Instagram).

Okay… davon ausgehend, dass es relevant ist, warum vermeide ich das Wort „müssen“?
Gegenfrage: Warum verwendest Du es? Warum verwendet „man“ es? Bei den meisten kommt dann als Antwort, dass es eben Gewohnheit sei, was dann auch genau der Grund ist, warum sie es nicht verändern wollen. Es ist angenehmer und einfacher, bei der Gewohnheit zu bleiben, als etwas zu ändern. Aber selbst wenn es „einfach eine Gewohnheit ist“, gibt es doch einen Grund, warum man damit angefangen hat. Ich präsentiere: „Alle anderen sagen es auch.“

Valider Punkt. Passt auch wunderbar zum Thema Verantwortung übernehmen, aber trotzdem: Valider Punkt. Ich denke wir sind uns einig, dass die allermeisten Menschen das Wort ziemlich viel verwenden. „Ich muss jetzt gehen.“ „Ich muss eben Geld verdienen.“ „Ich muss noch meine Hausaufgaben machen / das Klo putzen.“ „Ich muss…, du musst…, wir müssen…“ Alles Sätze, die andauernd fallen und dazu beitragen, dass die Gewohnheit weitergetragen und gefestigt wird. Selbst wenn ich es wegen „der anderen“ sage, die es auch wiederum von jemand anderem übernommen haben, dann muss es doch irgendwo seinen Ursprung haben.
Ha! Erwischt! Jetzt hast Du es selbst gesagt!

Falls Du es bemerkt hast, herzlichen Glückwunsch. Du bist soeben von Level 0 zu Level 1 aufgestiegen und somit offiziell im Spiel. Wie Du Dir vielleicht gedacht hast, war das nicht ganz unabsichtlich, sondern eine wunderbare Brücke, um einen kleinen Bogen zur tatsächlichen Bedeutung des Wortes „müssen“ zu schlagen.

Was heißt „müssen“? Was sage ich wirklich, wenn ich sage „Ich muss XY.“?
Das Wort setzt (übrigens auch laut Duden) einen Zwang voraus. Ein Zwang bedeutet eine Verminderung oder einen Wegfall von Wahlmöglichkeiten. Im ursprünglichsten Sinne die Begrenzung auf genau eine Option, was das Wort „Option“ hinfällig macht, denn dann besteht keine Wahl mehr. Das gilt für Entscheidungen unserer Selbst genauso wie für nicht-zwischenmenschliche Vorgänge. Wenn es genau eine Möglichkeit gibt, wie etwas abläuft, wenn alle anderen Optionen wegfallen, ist das ein Muss. Wenn ich muss, dann habe ich keine Wahl, es gibt keine anderen Optionen. Wenn ich sage, ich muss in die Schule gehen, dann ist das quasi eine Lüge. Ich kann auch zuhause bleiben. Und ja, die Geschichte mit der Polizei, die dann irgendwann nach Hause kommt, habe ich schon des Öfteren gehört und ja, ich weiß, dass auch die Eltern meistens Druck ausüben. Was allerdings nichts daran ändert, dass es auch andere Optionen gibt. Ich kann völlig nachvollziehen, dass Stress mit den Eltern oder der Polizei nicht besonders wünschenswert ist und ich will auch gar niemanden dazu anstiften, nicht in die Schule zu gehen oder das Gesetz zu brechen. Ich behaupte nicht, dass es keine Konsequenzen gibt, sondern nur, dass wir die Konsequenzen nicht tragen wollen. Das entscheidende Wort ist „wollen“. Nicht „müssen“. Ich will keinen Stress, deswegen will ich auch in die Schule gehen. Wo eine Entscheidung stattfindet, ist ein „müssen“ eigentlich fehl am Platz. Trotzdem wird es oft gesagt.

Und damit zurück zur Frage, warum überhaupt irgendjemand angefangen hat, dieses Wort zu verwenden (was wiederum dazu geführt hat, dass andere es gleichtun und so schlussendlich zu Dir und mir). Die Antwort liegt auf der Hand: Weil es zwar nicht immer faktisch richtig ist, aber es sich oft so anfühlt, als hätte ich keine andere Option (als beispielsweise in die Schule zu gehen). Also sage ich: „Ich muss in die Schule gehen.“

Was ist daran so schlimm? Erneute Gegenfrage: Ist es erfüllender, frei und selbstbestimmt oder fremdgesteuert und eingeengt zu leben? Ohne jetzt einen ganzen neuen Punkt aufzumachen (aber gerne wann anders): Ich bin mir ziemlich sicher, dass letzteres zwar in manchen Fällen angenehmer sein kann, aber wir in unserem tiefsten Inneren wissen, was wir davon lieber wollen.
Wenn ich sage, ich „muss“ etwas tun, gebe ich damit die Verantwortung ab und damit schlussendlich auch meine Freiheit zu wählen. Das tut meiner Selbstwirksamkeit nicht unbedingt gut, was wiederum zu einem verminderten Selbstwertgefühl führt, das mich Richtung Unglück, schlechter Gesundheit, Depression und all den Sachen bringt, die man eher nicht will.

Aber Anselm, in manchen Kontexten ist es doch gar nicht faktisch falsch?
Korrekt. Wenn Du auf den Mond willst, musst Du die Erde verlassen (es gibt auch sinnvollere Beispiele 😊). Allerdings darf ich klugscheißend darauf hinweisen, dass es sich um einen konditionalen Adverbialsatz handelt. Das Muss entsteht durch die vorherige Bedingung. Ich muss schließlich nicht auf den Mond, sondern ich will, also will ich auch die Erde verlassen. Es gibt auch noch einige andere Beispiele, in denen die Verwendung korrekt ist, aber erstens ist es auch dort unschwer möglich, auf Alternativen zurückzugreifen und zweitens würde ich die Aufmerksamkeit lieber dort haben, wo es wichtig ist. Nämlich dann, wenn wir durch unsere Wortwahl uns und unser Leben scheinbar einengen und wir diese Illusion dadurch, dass wir unseren Worte glauben und es immer wieder tun, zur Realität machen.

So das war eine lange Argumentation, ich hoffe Du konntest folgen und hast jetzt verstanden, warum Du das Wort „müssen“ nicht sagen darfst…  Hahaha. Sehr witzig von mir.
Der Satz hört sich nämlich nicht nur komisch an, sondern ist tatsächlich in sich widersprüchlich. Denn „nicht dürfen“ ist das Gegenstück zu müssen (und nicht etwa „nicht müssen“). Lustiger- (oder eher passender-weise heißt auf Englisch „You must not“ ins Deutsche übersetzt: „Du darfst nicht.“

Ein Teil von mir möchte hier noch weitere Ausflüge unternehmen UND es ist das Richtige hier mal einen Schlussstrich zu ziehen, auch wenn vermutlich sowieso niemals jemand außer mir selbst so weit lesen wird.

Deswegen setze ich hiermit ein abruptes Ende. Danke fürs Lesen.

Anselm

p.s. Ich habe übrigens große Freude daran, mich darüber auszutauschen und mich weiter damit zu beschäftigen. Du fandest es interessant, hast Dich angegriffen gefühlt oder möchtest sonst irgendwas ausdrücken? Her damit!